* 19 *
Beetle hatte nicht gerade den bequemsten Platz auf dem Drachen. Er saß hinter den Flügeln auf der zum Schwanz hin abfallenden Schräge, und das bedeutete, dass er, da der Drache seinen Schwanz als Steuerruder benutzte, zuweilen wie ein Jo-Jo auf und ab hüpfte. Doch er war fest zwischen zwei großen Stacheln eingezwängt und versuchte sich einzureden, dass er unmöglich hinunterfallen könne. Restlos überzeugt war er davon nicht. Nach dem Start hatte er sich umgedreht, an Feuerspeis mächtigem Schwanz vorbei nach hinten geschaut und zugesehen, wie die Schiffe im Hafen immer kleiner wurden, bis sie auf Spielzeuggröße geschrumpft waren. Dann hatte er sein Augenmerk auf die funkelnden Lichter des Handelspostens gerichtet, die sich wie die Perlen einer Kette an der Küste aneinanderreihten. Er hatte beobachtet, wie sie immer matter wurden, und als hinter dem Drachen die Nacht schließlich ihren Vorhang herabsenkte und das letzte schwache Glimmen erlosch, beschlich ihn ein beklemmendes Gefühl. Er zitterte und zog seinen Wärmemantel enger, aber er wusste, dass er nicht vor Kälte zitterte, sondern vor Angst.
Soweit er sich erinnern konnte, hatte er in seinem Leben noch nie Angst gehabt. In den Eistunneln war es ihm, besonders bei seinen ersten Fahrten, einige Male etwas unbehaglich geworden, und in dem eisstarren Wald auf dem Weg zum Foryxhaus hatte er sich auch nicht so toll gefühlt. Aber er glaubte nicht, dass er jemals zuvor dieses Gefühl von Angst verspürt hatte, das sich jetzt wie eine fette Schlange in seiner Magengrube einnistete.
Feuerspei flog gleichmäßig weiter. Stunden verstrichen. Sie kamen Beetle wie Jahre vor, aber seine Angst ließ nicht nach. Dann begriff er mit einem Mal, warum ihm so mulmig zumute war. Er flog heute nicht zum ersten Mal mit Septimus und Feuerspei. Er hatte sie zuvor schon auf verbotenen Flügen in die Ackerlande und einmal sogar bis hinauf zum Bitterbach begleitet, was extrem gruselig gewesen war. Und bei ihrer Reise vom Foryxhaus zum Handelsposten hatte er sogar auf demselben Platz gesessen wie heute. Aber sie waren jedes Mal so tief geflogen, dass er das Land unter sich hatte sehen können. Nun aber, in der Dunkelheit und hoch über dem Meer, bedrückte ihn die große Leere um sie herum und gab ihm das Gefühl, sein Leben hänge an einem seidenen Faden. Zudem wurde der Wind immer stärker, und als plötzlich eine kräftige Böe Feuerspei erfasste und auf die Seite drehte, rollte sich die Schlange in seinem Magen noch etwas fester zusammen.
Er nahm sich vor, nicht mehr in die Nacht hinauszustarren und sich stattdessen auf Septimus und Jenna zu konzentrieren, aber leider konnte er nur Jenna sehen – und auch von ihr nicht viel. Sie war ebenfalls in einen Wärmemantel gewickelt, und der einzige Hinweis darauf, dass tatsächlich sie darinsteckte, war, dass sich von Zeit zu Zeit eine lange Haarsträhne löste und im Wind flatterte. Von Septimus war gar nichts zu sehen, denn er wurde in der Kuhle hinter Feuerspeis Hals vom Pilotenstachel verdeckt. Beetle überkam ein seltsames Gefühl der Einsamkeit. Und er wäre nicht überrascht gewesen, hätte er plötzlich festgestellt, dass er ganz allein auf dem Drachen saß.
Septimus hingegen war bester Dinge. Feuerspei flog prächtig, und nicht einmal die immer kräftiger und häufiger werdenden Windstöße schienen ihn zu stören. Zwar meinte Septimus in der Ferne ein Donnergrollen zu hören, aber er sagte sich, dass es wahrscheinlich nur das Knattern der Drachenflügel war. Selbst als sie plötzlich in eine Regenböe gerieten, machte er sich keine allzu großen Sorgen. Der Regen war eiskalt und peitschte ihm schmerzhaft ins Gesicht, als er kurzzeitig in Hagel überging, doch Feuerspei flog einfach mittendurch. Erst das Zucken eines Blitzes erschreckte ihn.
Mit dem Geräusch von einer Million zerreißender Bettlaken brach der Blitz vor ihnen aus den Wolken hervor. In seinem Licht erstrahlte Feuerspei einen Sekundenbruchteil lang in einem grellen Grün, seine Flügel in einem durchscheinenden Rot mit einem Gerippe aus schwarzen Knochen – und die Gesichter seiner Reiter in einem gespenstischen Weiß.
Feuerspei bäumte sich vor dem Blitz auf, warf den Kopf zurück und blähte die Nüstern. Einen schrecklichen Moment lang spürte Beetle, wie er nach hinten rutschte. Er bekam den Stachel vor ihm zu fassen und zog sich nach vorn, während Feuerspei den Kopf senkte, wieder in die Waagrechte ging und weiterflog.
Septimus’ Zuversicht schwand. Er vernahm jetzt anhaltendes Donnergrollen, und vor sich sah er ganze Garben von Blitzen über den Wolken flackern. Es gab kein Entrinnen. Milo hatte recht gehabt – sie flogen in ein Unwetter hinein.
Jenna tippte ihm auf die Schulter. »Können wir nicht außen herumfliegen?«, schrie sie.
Septimus drehte sich um und spähte nach hinten. Im selben Moment zuckte ein verästelter Blitz herab und verfehlte nur knapp Feuerspeis Schwanz. Es war zu spät – auf einmal war das Unwetter überall um sie herum.
»Ich gehe tiefer ... dichter über dem Wasser ... nicht so stürmisch ...«, war alles, was Jenna verstand, da der Wind Septimus’ Worte verschluckte.
Gleich darauf spürte Beetle, dass Feuerspei wie ein Stein fiel. Er war überzeugt, dass ein Blitz den Drachen getroffen hatte, und die Schlange in seiner Magengrube begann, sich zu einem dicken Knoten zu verschlingen. Er machte fest die Augen zu, und als das Tosen der Wellen lauter wurde und ihm salzige Gischt ins Gesicht peitschte, wartete er auf das unvermeidliche Platsch. Als es ausblieb, öffnete er vorsichtig die Augen – und bereute es sofort. Eine Wasserwand, hoch wie ein Haus, kam direkt auf sie zu.
Auch Septimus hatte sie gesehen. »Hoch, Feuerspei! Hoch!«, schrie er und gab dem Drachen zwei kräftige Tritte in die rechte Flanke. Feuerspei brauchte keine Aufforderung – oder Tritte. Für Wasserwände hatte er ebenso wenig übrig wie seine Passagiere. Er schoss gerade noch rechtzeitig nach oben, und die riesige Welle wälzte sich unter ihnen durch und bespritzte sie mit Gischt.
Septimus ließ Feuerspei noch etwas höher gehen, bis sie außer Reichweite der Gischt waren, und blickte aufs Meer hinab. So etwas hatte er noch nie gesehen – tiefe Wellentäler und rollende Wasserberge, deren Kämme der Wind zu waagrechten Gischtstreifen verwehte. Septimus schluckte. Die Lage war ernst.
»Weiter so, Feuerspei!«, schrie er. »Weiter so! Bald haben wir es hinter uns.«
Aber sie hatten es nicht bald hinter sich. Septimus hatte noch nie darüber nachgedacht, wie groß so ein Unwetter war, flächenmäßig gesehen. Unwetter zogen immer nur über einen hinweg. Nun aber begann er sich zu fragen, wie viele Kilometer breit das Unwetter wohl sein mochte und, was noch wichtiger war, ob es in ihre Richtung zog oder nur ihren Weg kreuzte.
Sie setzten ihren Schlingerflug fort. Der Wind heulte, und die Wellen tosten und lärmten wie Armeen mitten im Kampfgetümmel. Heftige Böen zerrten an Feuerspeis Flügeln, die, wie Septimus jetzt zu Bewusstsein kam, nicht besonders stabil waren – nur dünne Drachenhaut und ein leichtes Knochengerüst. Jedes Mal wenn ein Windstoß Feuerspei erfasste, wurden sie zur Seite geworfen oder, was noch schlimmer war, nach hinten – was viel schwieriger zu korrigieren war und Beetle vor Schreck den Atem verschlug. Septimus merkte, dass Feuerspeis Kräfte erlahmten. Der Drache ließ den Kopf hängen, und seine Muskeln fühlten sich unter seinen Händen verkrampft und müde an.
»Weiter, Feuerspei, weiter!«, schrie Septimus wieder und immer wieder, bis er heiser wurde. Sie stemmten sich gegen Sturm und strömenden Regen, zuckten bei jedem Blitzstrahl und Donnerschlag zusammen.
Auf einmal meinte Septimus in der Ferne das Leuchtfeuer eines Leuchtturms zu erblicken. Er sah genauer hin, um sich zu vergewissern, dass es nicht nur ein Blitz war, aber das Licht, das den Horizont erhellte, war kein Blitz – es leuchtete gleichmäßig hell. Vielleicht hatten sie doch noch eine Chance. Septimus rief sich in Erinnerung, was ihm Nicko über ihre Route gesagt hatte, änderte den Kurs und ließ Feuerspei auf das Licht zufliegen – gegen den Wind.
Hinten auf dem Drachen bemerkte Beetle, dass sie den Kurs änderten, und fragte sich nach dem Grund, bis er vor ihnen einen Lichtschimmer sah. Er fasste wieder Mut – das musste der Doppeldünen-Leuchtturm sein. Und nicht weit dahinter lag Port. Wohlige und freudige Gedanken an die einladende Stadt durchströmten ihn, und er nährte sogar die Hoffnung, dass vielleicht, mit etwas Glück, der Pastetenladen noch offen hatte und einer seiner Cousins sich dazu überreden ließ, ihnen allen ein Bett für die Nacht zur Verfügung zu stellen.
Während Beetle von einem trockenen Bett und heißen Pasteten träumte, schöpfte auch Septimus wieder Hoffnung, denn er hatte das Gefühl, dass der Sturm abflaute. Er ließ Feuerspei wieder steigen, damit er besser sehen konnte, wohin sie flogen.
Das Licht strahlte hell in die Nacht, und Septimus lächelte – es war so, wie er gehofft hatte. Es waren zwei Lichter, dicht nebeneinander, genau wie Nicko sie beschrieben hatte. Jetzt wusste er, wo sie waren. Er flog auf demselben Kurs weiter, bis er so nahe war, dass er sogar die merkwürdigen, ohrenähnlichen Zacken auf dem Dach des Leuchtturms erkennen konnte. Er ging mit Feuerspei noch ein wenig höher, um dann den Kurs zu ändern. Doch dazu kam er nicht mehr. Der Sturm bäumte sich ein letztes Mal auf. Direkt über ihnen zuckte ein Blitz, und diesmal traf er – Feuerspei wurde herumgewirbelt. Ein beißender Geruch nach brennendem Drachenfleisch hüllte sie ein, und der Drache fiel vom Himmel.
Sie stürzten auf den Leuchtturm zu. Und während sie stürzten, wurde Beetle in die Wirklichkeit zurückgeholt – er erkannte, dass das Leuchtfeuer nicht von der wackeligen Eisenkonstruktion des Doppeldünenleuchtturms getragen wurde, sondern dass es zwei Lichter auf einem geschwärzten Backsteinturm waren, einem Turm mit zwei Zacken oben drauf, die ihn in seiner Angst an Katzenohren erinnerten.
Sie stürzten dem Meer entgegen, und was sie dort erwartete, waren nicht die einladenden Lichter von Port. Nur schwarze Nacht.